Der Keks lag auf dem Boden, zersprungen in 100 Teile.
Mia war vollkommen außer sich.
Sie schrie, die Tränen liefen ihr über das Gesicht.
Mia war die unglücklichste 5-Jährige, die du je gesehen hast.
Und wie das bei kleinen Kindern so ist: 5 Minuten später war wieder alles in Ordnung.
Und Mia schaute mich mit ihren roten Augen und und sagte:
Ich war wirklich traurig wegen dem Keks. Weil alles irgendwann kaputt geht.
Und da wurde mir klar: Diese 5-jährige war emotional klüger, als viele Erwachsene, die ich kenne.
Warum?
Weil Mia drei Dinge getan hat, die wir verlernt haben:
Sie hat ihr Gefühl gefühlt, ohne es zu bewerten.
Sie hat es benannt, statt es zu verstecken.
Und sie hat es ziehen lassen, statt es festzuhalten.
Wir Erwachsene machen das komplett anders.
Ein kaputtes Projekt, eine Absage, ein verletzender Kommentar.
Und was passiert?
- “Ich sollte darüber hinwegkommen.”
- “Das ist doch nicht so schlimm.”
- “Andere hätten damit kein Problem.”
Wir bewerten unser Gefühl, statt es zu verstehen.
Emotionale Reife bedeutet NICHT, dass du keine starken Gefühle haben darfst.
Sie bedeutet, deine Gefühle zu verstehen und zu wissen, was sie von dir brauchen, um sich zu beruhigen.
Mia wusste das instinktiv.
Es brauchte nur ein bisschen Zeit.
Emotionale Unreife sagt:
“Ich darf nicht wütend sein.”
Emotionale Reife sagt:
“Ich bin wütend. Was will mir diese Wut sagen?”
Emotionale Unreife kämpft gegen das Gefühl.
Emotionale Reife arbeitet mit dem Gefühl.
Das Problem ist: Wir haben gelernt, dass starke Gefühle “schlecht” sind.
Dass wir sie kontrollieren müssen.
Dass emotional reife Menschen immer gelassen sind.
Kompletter Blödsinn.
Die emotional reifsten Menschen, die ich kenne, haben die intensivsten Gefühle.
Sie haben nur gelernt, Gefühle zu reiten, statt von ihnen abgeworfen zu werden.
Stell dir vor, deine Gefühle könnten sprechen.
Deine Wut würde sagen: “Meine Grenzen wurden überschritten. Ich brauche Klarheit.”
Deine Angst würde sagen: “Ich brauche Sicherheit oder einen Plan.”
Deine Trauer würde sagen: “Ich muss loslassen. Hilf mir dabei.”
Aber wir hören nicht zu.
Wir sagen: “Sei still. Verschwinde. Du störst.”
Dabei sind Gefühle unglaublich nützlich.
Sie zeigen dir präzise, was du brauchst.
Wenn du wütend bist, brauchst du wahrscheinlich Grenzen.
Wenn du traurig bist, brauchst du wahrscheinlich Trost oder Zeit.
Wenn du ängstlich bist, brauchst du wahrscheinlich Sicherheit oder Information.
Das ist übrigens einer der Kern-Skills, die wir in Projekt G trainieren: Gefühle als Botschafter deiner Bedürfnisse verstehen.
Aber wir haben gelernt, unsere Gefühle zu managen, statt sie zu verstehen.
“Entspann dich mal.”
“Denk positiv.”
“Reiß dich zusammen.”
Als wären Gefühle lästige Störenfriede, die weg müssen.
Ein Gefühl braucht durchschnittlich 90 Sekunden, um durch deinen Körper zu fließen.
90 Sekunden!
Alles darüber hinaus machst du selbst.
Durch Widerstand. Durch Bewertung. Durch Grübeln.
Mia hat das intuitiv richtig gemacht:
Gefühl gespürt → Gefühl ziehen lassen → Gefühl benannt
Fertig.
Wir machen:
Gefühl gespürt → Gefühl bewertet → Gefühl bekämpft → Gefühl verstärkt → Stundenlang gegrübelt.
Das ist erschöpfend.
Jetzt denkst du vielleicht:
“Aber ich kann doch nicht einfach mitten im Meeting einen Wutanfall kriegen!”
Stimmt.
Emotionale Reife bedeutet auch zu wissen, wann und wo du deine Gefühle ausdrückst.
Aber sie bedeutet nicht, sie zu unterdrücken oder zu ignorieren.
Du kannst lernen:
“Ich merke, ich werde gerade wütend. Ich kümmere mich gleich nach dem Meeting darum.”
Statt:
“Ich darf nicht wütend sein. Das ist unprofessionell.”
Das Gefühl anerkennen, aber den Zeitpunkt wählen.
Das ist der Unterschied.
Fang heute damit an:
Wenn das nächste Mal ein starkes Gefühl kommt, frage nicht: “Wie werde ich das los?”
Frage:
“Was willst du mir sagen? Was brauchst du von mir?”
Behandle deine Gefühle wie Boten, nicht wie Feinde.
Mia hatte recht.
Manchmal geht alles kaputt.
Und manchmal ist das wirklich traurig.
Das darf sein.
Alles Gute für dich.
@Ralf Senftleben (Zeit zu leben)
Fotonachweis: unsplash.com / @ ManuelTheLensman