Simone organisiert im Büro Geburtstagsfeiern für Kollegen, die sie kaum richtig kennt.
Sie springt ein, wenn andere absagen.
Sie hört stundenlang zu, wenn jemand Probleme hat.
Alle schätzen Simone.
Was aber viele nicht über Simone wissen …
Sie fühlt sich unfassbar einsam und allein.
Vergangene Woche saß sie als Letzte weinend im Büro.
“Ich verstehe das nicht”,
schluchzte sie.
“Ich bin doch für alle da. Warum fühle ich mich trotzdem so allein?”
Ja, warum?
Weil Simone eine emotionale Rüstung trägt.
Ihre Hilfsbereitschaft ist nicht nur Güte und Menschenfreundlichkeit.
Ihre Hilfsbereitschaft ist ein Panzer, und dahinter die Angst.
Die Angst vor Wertlosigkeit.
Die Angst vor Ablehnung.
Durch ihre Hilfsbereitschaft schützt sie sich.
Anderen geht es ähnlich.
Hinter der Perfektion versteckt sich oft die Angst vor Kritik. Oder die Angst, einen Fehler zu machen.
Hinter der Stärke steht die Unfähigkeit, loszulassen. Und dahinter lauert der Burnout
Wir alle haben solche emotionalen Schutzmechanismen.
Die Harmoniesüchtige vermeidet jeden Konflikt, weil sie Todesangst vor Streit und Ablehnung hat.
Der Kontrollfreak plant alles bis ins Detail, weil er Angst vor Unsicherheit hat.
Die Bescheidene stellt sich immer hinten an, weil sie Angst hat, zu leuchten.
Die Unabhängige sagt stolz “Ich brauche niemanden”, weil sie Angst vor erneuter Enttäuschung hat.
Die Leistungsträgerin arbeitet oft bis zur Erschöpfung, weil sie Angst hat, wertlos zu sein.
Der Vernünftige erklärt alle Zwischentöne weg, weil er Angst vor der Macht seiner eigenen Gefühle hat.
Das ist natürlich nicht immer so.
Nicht jedes unserer Merkmale ist eine Maske, eine Rüstung oder eine Verkleidung.
Aber wenn wir uns hinter etwas verstecken, dann zahlen wir meistens auch einen Preis dafür.
Simone zahlt mit Einsamkeit.
Der Perfektionist zahlt mit Erschöpfung.
Die Harmoniesüchtige zahlt mit Selbstverleugnung.
Du zahlst auf Kosten deines wahren Selbst.
“Aber was ist denn schlecht daran, hilfsbereit, kontrolliert oder unabhängig zu sein?”
Nichts!
Das Problem ist nicht die Hilfsbereitschaft.
Das Problem ist die Motivation dahinter.
Hilfst du, weil du gerne hilfst?
Oder hilfst du, weil du Angst hast, sonst nicht geliebt zu werden?
Der Unterschied liegt in der Wahl.
Echte Hilfsbereitschaft kommt aus Freundlichkeit und kann auch mal “Nein” sagen.
Getarnte Hilfsbereitschaft kommt aus Angst und sagt immer “Ja”.
Echte Stärke zeigt auch Verletzlichkeit.
Getarnte Stärke zeigt niemals Schwäche.
Echte Perfektion ist flexibel.
Getarnte Perfektion ist starr und dogmatisch.
Simone hat angefangen, ihre Hilfsbereitschaft zu hinterfragen.
“Warum sage ich eigentlich Ja?”
“Aus Freude oder aus Angst?”
Wenn es aus Angst ist, übt sie jetzt, “Nein” zu sagen.
Nicht immer. Aber öfter.
Simone versteht immer mehr:
Ich bin auch ein guter Mensch, wenn ich Nein sage und mich mal um mich selbst kümmere.
Noch etwas anderes ist passiert.
Die Menschen um sie herum fragen sie öfter, ob sie Hilfe braucht. Andere hören sich ihre Sorgen an.
Und plötzlich fühlt sie sich nicht mehr so allein.
Weil sie sich erlaubt, auch mal zu nehmen.
Weil sie anderen erlaubt, für sie da zu sein.
Ja, wir wünschen uns Dinge.
Da hilft es, wenn wir diese Dinge auch zulassen.
Wenn wir die Maske absetzen.
Wenn wir die Rüstung ausziehen.
Wenn wir die Verkleidung ablegen.
Das braucht Mut. Und Übung.
Als Belohnung dafür gibt es dann das echte und lebendige Leben.
Mit echten Tränen und echten Glücksmomenten.
@Ralf Senftleben (Zeit zu leben)
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