René ist ungeduldig. Unglaublich schnell. Langsam geht gar nicht. Nicht, dass ich für meine Geduld bekannt wäre, aber mein Freund René aus Cannes ist mir in Sachen Ungeduld um drei Nasenlängen voraus.
Kürzlich traf ich ihn vor einem Vortrag in Marseille. Ausgangspunkt war eine zweistündige Walking-Tour vom alten Hafen durch das Panier-Viertel zur Kathedrale. Als der Guide es wagte, nach fünf Minuten einmal stehen zu bleiben, um eine Sehenswürdigkeit etwas ausführlicher zu erklären, grummelte René schon, das sei doch eine „Walking-Tour“ und keine „Rumsteh-Tour“. Wenn der Guide schneller wäre, könnten wir noch einen Abstecher nach Aix-en-Provence machen und auf dem Weg kurz am Strand stoppen.
Vite, vite – Mon Dieu!
Klar, ich will auch viel sehen – und seine Ideen zur Tagesgestaltung fand ich auch witzig. Aber noch einmal: René ist ein Kind unserer Zeit. Er ist Manager in einem französischen Elektrotechnikkonzern und an Tempo gewöhnt. Und natürlich geht es in seiner Firma auch selten schnell genug voran. Und das frustriert ihn. Ziemlich sogar.
Eine Gesellschaft im Alles-immer-sofort-Modus
Diese Denkweise ist symptomatisch für unsere Gesellschaft: Hensslers schnelle Nummer, Express-Workouts, Blitz-Diäten, Speed-Dating, Schnellladegeräte und Breaking News im Schnellüberblick …
Und es ist klar, dass sich diese Denkweise auch auf die Menschen in den Unternehmen überträgt. Viele Führungskräfte, Teamleads, Unternehmer und Rebels at Work, mit denen ich in den letzten Monaten gesprochen habe, sind frustriert, weil Veränderungen nicht im gewünschten Tempo vorankommen.
Echter Fortschritt braucht Geduld
Da klingt der Appell an die Geduld wie Hohn. Aber es gibt nun mal einerseits Dinge, die wir schnell erledigen können und andererseits Dinge, die Zeit brauchen und nur dann richtig gut werden, wenn wir sie mit Geduld angehen.
Geduld ermöglicht uns, große Ziele zu erreichen. Echten Fortschritt zu erreichen. Zu lernen, Vertrauen aufzubauen, Gefühle zu entwickeln und zu stärken.
Echter Fortschritt braucht Geduld. Und ist gerade deshalb so kraftvoll.
Geduld ist nicht passiv – Geduld ist konzentrierte Stärke
Bruce Lee hat einmal gesagt: „Geduld ist nicht passiv, im Gegenteil: Sie ist konzentrierte Stärke.“ Und genauso sehe ich das auch.
Die folgenden fünf Punkte beschreiben meine Überzeugung, für die ich in Gesprächen und Vorträgen immer wieder werbe:
1) Geduld bedeutet nicht, nichts zu tun.
Ganz im Gegenteil. Es bedeutet, alles zu tun, was wir können. Sicher zu sein, dass Wertvolles Zeit braucht. Und darauf zu vertrauen, dass die Zeit auf unserer Seite ist.
2) Geduld bedeutet zu akzeptieren, dass der Weg bereits das Ziel ist.
Wer Großes vorhat, sollte nicht aufgeben, nur weil ein Problem nach einigen Wochen, Monaten oder Jahren noch nicht vollständig gelöst ist. Wer zum Beispiel Führung und Zusammenarbeit nachhaltig verändern will, wer die Kultur in seiner Organisation verändern will, wer für mehr Diversity kämpft, der sollte akzeptieren, dass der Weg schon das Ziel ist. Denn so sehr wir auch für den Fortschritt kämpfen und auf eine bessere (Arbeits-)Welt hoffen, sie wird nie perfekt sein.
3) Geduld bedeutet, den Dingen beim Wachsen zuzusehen und zu wissen, dass sie dafür eben Zeit brauchen.
Kein Kind lernt an einem Nachmittag laufen. Niemand entwickelt eine tiefe Freundschaft während eines Abendessens. Niemand lernt eine Fremdsprache in einer Woche. Wer ein Musikinstrument spielen will, braucht Zeit zum Üben. Ein Kunstwerk kann man nicht im Schnelldurchlauf genießen. Ein leckeres, frisches Essen kann nicht in acht Minuten zubereitet werden.
4) Geduld bedeutet, bei Rückschlägen nicht hinzuschmeißen.
Wenn wir Dinge gestalten, wenn wir mit neuen Möglichkeiten experimentieren, dann werden wir unweigerlich Rückschläge erleiden. Anstatt uns über diese Misserfolge zu ärgern, sollten wir sie als einen Segen betrachten. Denn neue Ufer erreichen wir nur, wenn wir dorthin aufbrechen, also Vertrautes verlassen und Neues ausprobieren. In einer Welt, in der persönliche und unternehmerische Weiterentwicklung zwingend damit verknüpft ist, Risiken einzugehen und Wetten mit ungewissem Ausgang auf die Zukunft abzuschließen, sind Rückschläge unvermeidlich. Sich ihnen zu stellen, ist einfach nur gesund und vernünftig.
5) Geduld bedeutet, die kleinen Erfolge auf dem Weg zu feiern.
Kleine Erfolge feiern heißt nicht, die Hände in den Schoß zu legen und zu resümieren „jetzt ist alles gut“. Vielmehr geht es darum, innezuhalten, die auf dem Weg gewonnenen Erkenntnisse zu reflektieren und im Austausch mit anderen die zwischenmenschlichen Beziehungen zu stärken. Es geht um kleine Pausen, um das Erreichte zu würdigen. Um uns daran zu erinnern, dass unsere Anstrengungen einen Sinn haben. Um die Freude an der Reise zum gegenwärtigen Erfolg zu feiern. Ohne diese Pausen kann man das, was vorher und nachher passiert, nicht wirklich verstehen.
Geduld? Als ob ich Zeit für so ’n Blödsinn hätte
Ja, ich gebe zu, dieser Satz könnte von mir stammen. Aber ich weiß auch, dass ich mir mit meiner Ungeduld oft Türen zuschlage, die sich gerade öffnen.
Fakt ist: Geduld ermöglicht uns, große Ziele zu erreichen. Echten Fortschritt zu erreichen. Zu lernen, Vertrauen aufzubauen, Gefühle zu entwickeln und zu stärken.
Und deshalb ist es so wichtig, dass wir Meister darin werden, unsere Zeit sinnvoll zu investieren:
Ungeduldig zu sein mit dem Unwesentlichen. Ja!
Aber auch geduldig sein mit dem, was wirklich wichtig ist.
Alles Wichtige braucht Zeit. Und genau das macht es so wertvoll.
PS: René und ich waren übrigens weder am Strand noch in Aix-en-Provence. Wir haben uns im Café de l’Abbaye ein paar Pastis gegönnt und in aller Ruhe die Atmosphäre und unser Wiedersehen genossen. Auf die Geduld! A votre santé!
@Peter Kreuz
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