Das Gehirn bildet sensorische Reize möglichst präzise ab? Von wegen. Der Nutzen einer Information beeinflusst unsere Wahrnehmung – und das bereits auf Ebene der Netzhaut.
Wenn es um unser Überleben, unser Wohlbefinden oder andere Interessen geht, sehen wir die Dinge unbewusst verzerrt. Zu diesem Ergebnis kommt ein Team um Jonathan Schaffner von der Universität Zürich. Es bewies außerdem, dass der Effekt bereits im Auge beziehungsweise in der Netzhaut einsetzt.
Im ersten Versuch sollten 25 Personen jenes von zwei Streifenmustern auswählen, welches einem 45-Grad-Winkel am nächsten kam. Dafür gab es unterschiedliche Belohnungen: Einmal erhielten sie für jeden Treffer 15 Schweizer Franken. In der zweiten Bedingung hing die Entlohnung nur von der Orientierung der Reize ab: Der Score stieg kontinuierlich von 0 bis 45 Grad (1 Franken bei 0 Grad Neigungswinkel; 46 Franken bei 45 Grad). Und siehe da: Die Probanden lernten bei der zweiten Bezahlungsart besser, diagonale Muster voneinander zu unterscheiden. Die Wahrnehmung scheint sich also anzupassen: Wir sehen das präzise, was uns nutzt.
Ist es wirklich die basale Wahrnehmung, die sich verändert, oder handelt es sich um unterschiedliche Interpretationen desselben Sinneseindrucks? Um das zu untersuchen, machte sich das Team die räumliche Organisation der frühen Sehareale zu Nutze. Diese sind wie eine Karte der Retina aufgebaut: Benachbarte Reize der Netzhaut stimulieren benachbarte Nervenzellen. 61 Freiwillige trainierten im Folgeversuch mit denselben Belohnungsprinzipien – aber nun sah jeder Teilnehmer das Vergleichspaar in einer der beiden Bildschirmhälften. Nach dem Training ging es wieder ans Geldgewinnen: Die Teilnehmer sahen ein einzelnes Muster jeweils am oberen oder am unteren Rand des Screens und mussten den Winkel der Streifen schätzen. Befand sich das Muster im selben Teil des Bildschirms wie im Training, so passte sich ihre Wahrnehmung sofort an die Logik der Nutzenmaximierung an, die sie zuvor gelernt hatten. Dies war nicht der Fall, wenn das Muster im anderen Teil erschien.
Die Anpassung passiert also schon in den frühesten Stadien der Reizverarbeitung, war die Schlussfolgerung. »Sobald wir etwas betrachten, versuchen wir unseren eigenen Nutzen zu maximieren«, so die Autoren. »Das bedeutet, dass kognitive Verzerrungen lange vor dem bewussten Nachdenken über etwas beginnen.«
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