„Lass das Leben in Ruhe!“ dieses Zitat von Eckhart Tolle hat in mir einiges ins Rollen gebracht. Ohne direkt verstanden zu haben, was er damit meinte, spürte ich, dass ich dieser fühlenden Wahrheit in mir auf den Grund gehen musste. So begann mein Weg der Hingabe an das Leben.
Wenn ich gefragt werde, was sich verändert hat, seitdem ich mein gewohntes Umfeld, also meinen Mann, unsere gemeinsamen fünf Kinder samt allen Rollen die ich eingenommen und bedient hatte, verlassen habe, so gibt es nur ein Wort dafür: Alles.
Die Entscheidung, etwas in meinem Leben verändern zu müssen, entsprang aus einer Not heraus, einer Not, die ich nicht in Worte fassen kann. Ich versuche es dennoch.
Zunächst hatte ich permanent Stress in meinem Körper, das Gefühl einen täglichen Marathon zu laufen, der mich bis zum Äußersten ermüdete. Der Zustand zog Karawanen von negativen Gefühlen und Körpersymptomen mit sich, die immer mehr wurden. Ich hatte das Gefühl entweder bald zu im- oder zu explodieren, wenn ich nicht sofort etwas an meiner Situation verändern würde. Dieser Druck gab mir die Kraft und den Fokus, das Umfeld in dem ich mich befand innerhalb weniger Wochen verlassen zu können, über die Konsequenzen bin ich mir bis heute nicht bewusst. Ich ging ohne zu wissen, wie lange, was andere von mir denken würden, ob ich jemals wieder zurückkehren würde, wohin ich gehen sollte. All das wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht. Die Stimme in mir sagte einfach nur: geh. Jetzt. Ab diesem Tag durchlebte ich Wellen an Gefühlen, die ich so noch nie gespürt hatte. Es ging hoch und runter, manchmal intensiver, manchmal ruhiger.
Doch ein neues Gefühl stellte sich nach und nach ein: das Gefühl, über mein Leben entscheiden zu dürfen, es fühlte sich plötzlich alles sehr lebendig an. Und obwohl ich den höchsten Preis zahlen muss, den ich mir als Mutter vorstellen kann, nämlich meine Kinder nicht aufwachsen sehen und sie auch physisch nicht immer berühren zu können, fühle ich auch heute, vier Jahre später, dass es das einzig Richtige war, mich für meinen Weg der Lebendigkeit entschieden zu haben. Ich habe niemals meine Kinder verlassen, sondern die Rolle die ich innerhalb des Familienkonstruktes spielte. Ich wollte wissen, wer ich ohne meine Rolle, meine Kostüme, ohne das System bin in dem ich aufwuchs. Was bleibt von mir, wenn nichts mehr ist? war und ist meine Frage an das Leben. Was passiert, wenn ich nicht mehr mitmache, was passiert, wenn ich meine eigenen Entscheidungen treffe, die ich von Augenblick zu Augenblick verändern darf? Was, wenn es keinen Plan mehr gibt, nur noch die Ein- und Ausatmung, der nächste Schritt, und wieder der nächste. Kann ich so leben? Darf ich so leben?
Inzwischen kann ich sagen, ja und kann mir gar nicht mehr vorstellen, anders zu leben, als im gegenwärtigen Augenblick. Meine Reise zu meiner Essenz sollte noch viele Jahre dauern, nach und nach wagte ich es immer mehr „Sicherheiten“ abzulegen und dann wollte ich es wirklich wissen: gibt es eine Instanz in mir, die mich führt, auch wenn ich ohne materiellen Puffer durch Europa reise, ohne Plan, ohne zu wissen, wo ich schlafen werde oder ich am nächsten Tag etwas zu Essen und Trinken haben werde. Da mein Verstand in immer neuen Situationen war, konnte er mir keine plausible Lösung präsentieren. Er beruft sich schließlich nur auf alte Erfahrungen. Ich habe ihn sozusagen ausgetrickst, in dem ich ohne Geld, Konto, Versicherung und Rückflugticket loszog. Es sollte fünf Monate dauern, in denen ich lernen durfte, was es heißt zu sterben. Und obwohl ich oft an dem Punkt war, der Sinnlosigkeit meiner Reise ein jähes Ende bereiten zu wollen, in dem ich darum bat, diesen Körper endlich verlassen zu dürfen, denn das Anstrengenste war schließlich, ihn mit Nahrung, Wärme und Wasser versorgen zu müssen, starb nicht mein Körper, sondern das Ego. Es musste früher oder später kapitulieren und ab dem Moment, wurde mein Leben wieder leichter. Mir wurde bewusst, dass ich zu keiner Zeit in Gefahr war, das was ständig in mir Alarm schlug war der Verstand. Im Äußeren war alles wohlwollend und friedlich.
Ich kam stärker und entschlossener als je zuvor zurück in meine Heimat und hatte das Gefühl, dass mich jetzt nichts mehr aus der Bahn werfen könne.
Das ist natürlich ein Irrtum, denn auch heute stehe ich oft ratlos vor Situationen, die mir scheinbar zufällig vom Leben serviert werden, allerdings hat sich meine Haltung ihnen gegenüber verändert.
In all den Jahren lernte ich, was es bedeutet demütig und dankbar dem Leben gegenüber zu sein und zwar für jede Unterkunft, in der ich schlafen und für jedes Essen, das ich erhalten durfte. Nichts war mehr selbstverständlich, und doch waren es Geschenke. Ich lernte anzunehmen.
Und das Bewusstsein über die Auswirkungen meiner Gefühle, die sich im Außen als Spiegel zeigten, stieg von Tag zu Tag. Ich begann sehr genau auf meine Gedanken zu achten, versuchte in noch so schwierigen Situationen, die negative Sicht herauszunehmen, in dem ich mich bedankte. So nahm ich konsequent alles an, was in mein Leben kam, egal ob es sich gut oder schlecht anfühlte. Ich lernte, dass beides mir dient und nur die Bewertung der Situationen in mir Leid erzeugten.
Das letzte Jahr war ich nun hauptsächlich damit beschäftigt, alle Widerstände in mir abzulegen, jegliches Wollen, Wünschen, und auch das Urteilen. Und falls ich wieder in diese alten Muster falle, gibt mir das Leben sofort die Antwort: denn es wird nicht mehr bedient. So wird mir immer schneller bewusst, was jetzt aus dem Ego und was aus meinem Herzen kommt. Das Ego diskutiert, wägt ab, kalkuliert. Das Herz sagt klar, ja oder nein.
Zum Bewusstsein zu gelangen erfordert einen langen Atem, doch ich bin davon überzeugt-, wer diesen einen Schritt wagt, den Schritt in das Neue, das Unbekannte, den Schritt bei dem der Verstand kreischt und alle Geschütze hochfährt um bloß im Alten zu bleiben: da dürfen wir beruhigt unsere Hand auf das Herz legen und sagen: ich vertraue Dir,- der gewinnt mehr, als der Verstand es sich je hätte vorstellen können. Und so ist der erste Sprung ins kalte Wasser erstmal unangenehm, doch bereits der zweite ist schon wesentlich leichter und vertrauter. Nach und nach spüren wir die Lebendigkeit und Neugier auf das Leben, was möchte es mir heute schenken?, könnte eine Frage sein, die wir uns jeden morgen stellen.
@Janina Merten
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