Wie Deine „inneren Eltern“ Dich gefangen halten – und wie Du Dich endlich befreien kannst
“Ich war ein ungewolltes Kind”, “Meine Mutter war nie da für mich”, “Mein Leben wäre anders verlaufen, wenn mein Vater kein Säufer gewesen wäre”. Unabhängig davon, wie gut es unsere Eltern vielleicht mit uns meinten, hinterlassen sie Spuren in unserer Seele. In vielen Fällen leider nicht nur gute.
Endlich frei sein von den Verletzungen unserer Kindheit, das marode Selbstwertgefühl renovieren, die nagenden Selbstzweifel abstellen, Frieden schließen mit dem was mal war, nach den eigenen Maßstäben leben, als freier Mensch neu durchstarten – das wünschen sich viele.
Es zu erreichen ist möglich. Doch dafür müssen wir zunächst einmal Ordnung in unserem Inneren schaffen. Müssen uns mit der Vergangenheit und den Spuren, die sie in uns hinterlassen hat, aussöhnen.
Götter unseres kleinen Universums
Aus unseren Kindheitserfahrungen bilden sich Denk-, Gefühls- und Verhaltensmuster, die unser Leben noch als Erwachsene beeinträchtigen. Sie beeinflussen, wie wir zu uns selbst stehen, auf andere zu und mit ihnen umgehen, welche berufliche Laufbahn wir einschlagen, welches Lebensgefühl uns begleitet, welche Entscheidungen wir treffen, etc.
Die wichtigsten Menschen in dieser Zeit sind natürlich unsere Eltern. Sie sind die ersten “Götter unseres kleinen Universums”. Sie zeigen uns, wie man sich in dieser Welt zurecht findet. Schließlich waren sie lange vor uns da und wissen, wie der Hase läuft. Als Kinder sind wir völlig auf sie angewiesen. Ohne ihre Gunst würden wir nicht lange überleben. Deshalb sind die Prägungen durch unsere Eltern auch so machtvoll.
In den Erfahrungen mit unseren Eltern lernen wir, was wir für einer oder für eine sind. “Du bist stinkend faul, räume endlich dein Zimmer auf und mach’ deine Hausaufgaben ordentlich”. Viele Kinder bekommen solche und ähnliche Sätze immer wieder zu hören. Mit der Zeit bilden wir eine eigene Identität um diese Botschaften herum. Dann sind wir eben der- oder diejenige, die “stinkend faul” ist oder “dafür sowieso zu blöd”. Nichts prägt uns mehr, als die frühen Jahre unserer Kindheit und Jugend.
Abwertungen, Beschämungen und andere Schnitte in unser Selbstbild
Dass Gewalt, Kindesmissbrauch, Vergewaltigung, etc. eine stark traumatisierende Wirkung haben, muss niemandem erklärt werden. Doch es sind nicht immer nur die einmaligen besonders schlimmen Erfahrungen, die ein Trauma hinterlassen können. Francine Shapiro, die Begründerin des EMDR, einer Methode, die sehr erfolgreich in der Traumatherapie eingesetzt wird, unterscheidet beispielsweise Big-T-Traumata und Small-T-Traumata.
Die Big-T-Traumata beschreiben die oben genannten besonders schweren traumatischen Erlebnisse. Small-T-Traumata hingegen beziehen sich auf die zahlreichen seelischen Klein- und Kleinstverletzungen, die wir im Laufe unseres Lebens erleiden. Ihre traumatische Wirkung kommt vor allem durch die häufige Wiederholung solcher und ähnlicher Verletzungen zustande.
Small-T-Traumata sind auch dadurch besonders tückisch, dass jede weitere Wiederholung wie eine Bestätigung des vorangegangenen wirkt. Die Glaubenssätze, die wir um solche Traumata herum bilden, scheinen sich damit immer wieder aufs neue zu bestätigen. Sie verfestigen sich somit immer mehr. Wir beziehen die Erlebnisse auf uns und bilden eine Identität um sie herum. Schnell kommen wir dann zu dem Schluss, dass mit uns wohl etwas nicht stimmen muss, sonst würden wir nicht immer wieder ähnliche Dinge erleben.
Gemeint sind hier wiederholte Beschämungen, der ständige Streit in der Familie, andauernde negative Botschaften unserer Eltern, Abwertungen unserer Person, usw. Wir können uns gegen diese emotionalen Nadelstiche nicht wehren und ihre Wirkung summiert sich auf. Das einzelne Erlebnis mag dabei nicht besonders schlimm sein, in Summe wiegen sie jedoch schwer und prägen unser Selbstbild.
Doch es sind nicht nur die aktiven Handlungen, die uns schaden. Eine andere Kategorie sind die “Verlassenheitstraumatisierungen”. Das Trauma entsteht hier dadurch, dass nichts getan wurde, als etwas hätte getan werden sollen.
Wenn Eltern ihre Kinder aus Zeitgründen vernachlässigen, sich nicht um sie kümmern, ihre emotionalen Bedürfnisse ignorieren, sie sich selbst überlassen, sie nicht darin begrenzen, die Probleme der Eltern mittragen zu wollen, ihren Kindern nicht das Gefühl gegeben haben, wichtig zu sein, etc. hat dies ebenfalls eine starke Wirkung.
Die inneren Eltern
Nach dem Multimind-Konzept (Robert Ornstein 1989, Multimind) ist die menschliche Psyche in einzelne Fragmente aufgeteilt. Die Persönlichkeit eines Menschen setzt sich aus verschiedenen Teilpersönlichkeiten zusammen. Diese haben eigene Wünsche, Bedürfnisse, Ängste, usw. und stehen mit anderen Teilpersönlichkeiten in Beziehung. Sie können aneinander vorbei leben, sich gegenseitig stützen oder miteinander in Konflikt geraten.
Das hat nichts mit einer gespaltenen Persönlichkeit im krankhaften Sinn zu tun. Es geht dabei um ganz natürliche Vorgänge, wie sie in jedem gesunden Menschen vorgehen. Normalerweise bekommen wir von dieser inneren Dynamik jedoch nur die Auswirkungen zu spüren, ohne den Prozess bewusst zu verfolgen.
Unsere Persönlichkeitsteile werden auch durch die Erfahrungen mit unserer Umwelt geprägt. Indem wir das Erleben unserer realen Familie in uns abbilden, erschaffen wir deren “lebendes” Hologramm in uns: Unsere inneren Eltern.
Zwischen den inneren Eltern und unserem inneren Kind spielt sich die gleiche Beziehungsdynamik ab, wie wir sie früher mit unseren realen Eltern erlebt haben. In uns ist es also noch genau so, wie früher um uns herum. Persönlichkeitsteile entwickeln sich nämlich nur sehr wenig von selbst weiter.
Und sie bleiben relativ unbeeindruckt von äußeren Entwicklungen. Auch wenn sich vielleicht das Verhältnis zu unseren realen Eltern in der Zwischenzeit deutlich verbessert hat, herrschen innerhalb unserer “inneren Familie” noch dieselben Spannungen wie früher.
Die Aussöhnung mit den inneren Eltern hat mit unseren realen Eltern nichts zu tun. Es ist dabei nicht wichtig, welches Verhältnis wir heute zu ihnen haben. Selbst ob sie noch leben oder bereits von uns gegangen sind, spielt für diese Art der “Seelenarbeit” keine Rolle, denn wir arbeiten ausschließlich mit dem inneren Bild unserer Eltern. Einem Bild, das wirkt.
Oft liegt der Fall auch andersherum. Dann leiden wir an den emotionalen Verletzungen, die wir durch unsere Handlungen oder Unterlassungen unseren Eltern zugefügt haben. Uns plagen Schuldgefühle. Besonders schlimm kann es werden, wenn die Eltern sterben, ohne dass eine Aussprache stattgefunden hat. Auch hier ist es möglich, mit den inneren Eltern zu arbeiten und ihnen stellvertretend zu sagen, was wir unseren richtigen Eltern nicht mehr sagen konnten. So fällt es uns später leichter, Frieden mit uns selbst zu schließen und uns zu vergeben.
Um Ordnung in unserem Innenleben zu schaffen, müssen wir die verschiedenen Teile unserer Persönlichkeit miteinander aussöhnen und einer gemeinsamen Führung unterstellen. So übernehmen wir wieder die Kontrolle über unser Leben und lassen alte Muster hinter uns. Wir schließen Frieden mit der Vergangenheit, mit unserer Kindheit und unseren inneren Eltern.
In Kontakt mit den inneren Eltern kommen – Eine Übung
Grundsätzlich ist es auch möglich, diese Arbeit bis zu einem gewissen Grad ohne professionelle Unterstützung zu machen bzw. damit zu beginnen. Eine gute „Vorübung“, um in Kontakt mit den inneren Eltern zu kommen und den Prozess in Gang zu bringen, ist die „Zwei-Brief-Methode“:
Wähle einen Elternteil aus, mit dem du beginnen möchtest. Betrachte diesen Elternteil durch die Augen des Kindes, das du damals warst. Schreibe ihm einen Brief, in dem du alles zu Papier bringst, was dich belastet. All die Vorwürfe, alle Vorhaltungen, alles, was dir auf der Seele brennt. Und zwar unzensiert.
Achte dann darauf, wie du dich fühlst. Befreit, erleichtert, besorgt, aufgewühlt? Es ist ok, was immer es ist. Vielleicht träumst du auch in den nächsten Tagen intensiver. Danach ruhe dich aus und lasse alles nachwirken.
Bevor du diesem Elternteil den zweiten Brief schreibst, betrachte ihn nun durch die Augen des Erwachsenen, der du heute bist. Nimm die Situation wahr, in der sich dein Elternteil damals befand. Schau dir seine Erziehung an, das Umfeld, in dem er selbst aufgewachsen ist. Die Werte, die ihm als Kind vermittelt wurden. Schaue in seinen Kopf und sein Herz. Welche Sorgen und Ängste quälten ihn? Bewerte nicht, beobachte nur. Sieh ihn mit den Augen eines Erwachsenen.
Dann achte auf Ähnlichkeiten. Fühlt er sich in einem Bereich genauso, wie du es auch von dir selbst kennst? Habt ihr ähnliche Sorgen oder Ängste? Versuche nichts zu entschuldigen und auch keine Vergebung zu praktizieren. Darum geht es nicht. Schau einfach nur genau hin. Lass für einen Moment von deinem Schmerz und deiner Geschichte über diesen Elternteil ab und schau einfach nur hin. Was siehst du?
Dann beginne den zweiten Brief mit “Lieber Papa (oder liebe Mama) …seit dem letzten Brief habe ich erkannt, dass…” und dann schreibe alle Erkenntnisse nieder, die dir gekommen sind durch die Erfahrung, ihn durch die Augen des Erwachsenen, der du mittlerweile bist, im Gesamtbild zu sehen.
Anschließend lass auch diesen Brief nachwirken. Verfahre dann mit den Briefen, wie es für dich richtig ist. Verbrenne sie in einem Ritual, bewahre sie in einer Schublade auf, vergrabe sie im Garten, überlasse sie in einer Flaschenpost dem offenen Meer. Diese Briefe sind nur für dich bestimmt, niemand sonst (und erst recht nicht deine Eltern) sollen sie je zu lesen bekommen. Mit dem anderen Elternteil verfährst du später natürlich genauso.
@Andreas Gauger