Ein weitverbreiteter Mythos zum Thema Gefühle besagt, dass diese irrational und unverständlich sind. Das zeigt sich schon darin, dass wir den Begriff „Gefühl” sehr vage verwenden — und zwar für so ziemlich alles, was sich dem rationalen Verständnis entzieht. „Ich habe das Gefühl, dass du mich anlügst” oder „Ich habe kein gutes Gefühl dabei” sind klassische Beispiele solch bewusst schwammig gehaltener Aussagen. Doch wofür haben wir Gefühle eigentlich? Sind sie wirklich so unlogisch und vielleicht sogar unpraktisch wie gemeinhin angenommen? Oder verbirgt sich hinter unseren emotionalen Wogen vielleicht eine geheime Logik, eine unsichtbare Gesetzmäßigkeit, die wir bislang schlicht noch nicht entdeckt haben? Vivian Dittmar hat sich auf Forschungsreise begeben, um diesen und ähnlichen Fragen auf den Grund zu gehen. Heraus kam ein bestechend klares Modell, das die einzelnen Gefühle in einen sinnvollen Zusammenhang miteinander stellt. Es zeigt auf, wie Gefühle entstehen und vor allem, wofür sie gut sind: der Gefühlskompass.
Fünf Grundgefühle
Der Gefühlskompass ist ein innerer Navigator, der uns in den Stürmen des Lebens Halt und Orientierung bietet. In ihm sind statt der vier Himmelsrichtungen vier Grundgefühle angeordnet — Wut, Trauer, Angst und Freude. In der Mitte des Kompasses, wo die Nadel festgeschraubt wäre, befindet sich das fünfte Gefühl, die Scham. Sie unterscheidet sich von den vier äußeren Gefühlen darin, dass sie sich nach innen richtet, also auf uns selbst. Bei diesen fünf Grundgefühlen handelt es sich nicht um eine willkürliche Auswahl. Vielmehr befähigen uns diese Gefühle in ihrer Kombination, mit allen Situationen im Leben angemessen umzugehen. Warum das so ist und was es mit genau diesen Gefühlen auf sich hat wird deutlich, wenn wir uns die einzelnen Gefühle genauer ansehen.
Wut: klare Positionierung
Wut ist ein Gefühl, das immer dann auftritt, wenn uns etwas gegen den Strich geht. Wut ist dann ein richtig gutes Gefühl, wenn wir genau wissen, was uns nicht passt und es auch in unserem Einflussbereich liegt, es zu verändern. Ein Beispiel: Ich komme nach Hause und stelle fest, dass der bestellte Pullover in der falschen Größe geliefert wurde. Die richtige Dosis Wut gibt mir genau das richtige Maß Energie, um mich beim Versandhaus zu beschweren, das Ding wieder einzupacken und auf den Rückweg zu schicken. Sehr praktisch. Richtig unpraktisch ist Wut hingegen dann, wenn ich an einer Situation nichts ändern kann. Etwa wenn ich mein Handy verloren habe oder mein Lieblingspullover ein Loch bekommen hat. Oder wenn der Kollege zum ixten Mal die Deadline nicht eingehalten hat. Hier brauchen wir andere Gefühle — zum Beispiel Trauer.
Trauer: Annehmen, was ich nicht ändern kann
Im Gegensatz zu Wut versetzt Trauer uns nicht in Handlungsbereitschaft, sondern sie lässt uns zur Ruhe kommen. Trauer ist ein Gefühl, das zwar auch auftritt, wenn etwas nicht so ist, wie wir es gerne hätten. Sie ist jedoch dazu da, uns zu helfen, diese Tatsache anzunehmen, statt sie zu verändern. Eben wenn mein Lieblingspullover ein Loch bekommen hat oder mein Handy weg ist. Und natürlich auch, wenn ein geliebter Mensch gestorben ist — oder ein Kollege, den man richtig gerne mag, die Firma verlässt. Trauer hilft uns, mit all jenen Situationen angemessen umzugehen, die uns zwar nicht gefallen, die wir jedoch nicht ändern können. Dafür ist Trauer das richtige Gefühl. Es gibt allerdings auch Situationen, die wir weder annehmen noch verändern können. Hier braucht es nochmal ein anderes Gefühl — zum Beispiel Angst.
Angst: sich auf das Unbekannte einlassen
Dieses Gefühl mag keiner haben: Angst. Sie steht für Lähmung, Handlungsunfähigkeit, Ausgeliefertsein und Ohnmacht. Doch auch Angst ist ein Gefühl das nicht entstanden ist, um uns das Leben schwer zu machen, sondern erfüllt eine wichtige Funktion. Auch Angst ist eine Kraft, wenn wir wissen, wie wir sie nutzen können. Da Angst in Situationen auftritt, die wir weder annehmen noch verändern können, ist Angst ein Signal für das Unbekannte. Das Vertraute versagt hier, es kann nur etwas komplett neues geschehen. Dieses Unbekannte kann eine Gefahr bergen, es kann aber auch eine große Chance sein. Fakt ist, wir wissen es nicht, bis wir uns darauf einlassen. Genau hierbei hilft uns Angst. Sie ist ein Signal für die Grenze zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten. Und sie kann uns über diese Grenze tragen.
Scham: sich selbst in Frage stellen
Manchmal ist es auch an der Zeit, sich selbst in Frage zu stellen. Hierbei ist ein weiteres, zuweilen unbeliebtes Gefühl, von zentraler Bedeutung: die Scham. Sie lässt uns in den Spiegel unserer eigenen Werte blicken und fordert uns auf, zu überprüfen, inwieweit wir unseren Überzeugungen treu sind. Scham ist der Blick nach innen, weshalb dieses Gefühl in der Mitte des Kompasses angesiedelt ist. Haben wir den prüfenden Blick erst auf uns selbst gelenkt, können wir dann jedes andere Gefühl auch auf uns selbst anwenden: die Wut, wenn wir uns einfach mal einen Ruck geben müssen, die Trauer, wenn es gilt, Anteile anzunehmen, auch wenn sie uns nicht gefallen oder die Angst, wenn wir Aspekten ins Auge sehen, mit denen wir nicht umzugehen wissen. Und natürlich können wir auch Freude empfinden über das, was wir dort entdecken: vielleicht halten andere etwas an uns für falsch, aber wir stehen dazu!
Freude: wertschätzen, was mir gefällt
Auch im Außen gilt Freude jenen Dingen, die wir als richtig empfinden oder beurteilen. Deshalb ist sie auch das einzige Gefühl im Kompass, das wir als positiv einordnen: Nur die Freude gilt Umständen, die unseren Bedürfnissen entsprechen! Jedes der anderen Gefühle gilt hingegen Situationen, die anders sind, als wir sie gerne hätten. Freude ist Wertschätzung. Sie sagt: Das gefällt mir! So will ich es haben! Das habe ich mir gewünscht! Doch nicht immer empfinden wir Freude, wenn etwas so ist, wie wir es haben wollen. Allzu oft nehmen wir etwas für selbstverständlich und versäumen es, das weiche Bett, das erfolgreiche Projekt, das leckere Abendessen als Anlass zur Freude zu nehmen. Woran liegt das? Um das zu verstehen müssen wir uns der Frage zuwenden, wie Gefühle überhaupt entstehen.
Wie entsteht ein Gefühl?
Die landläufige Meinung zum Thema Gefühle besagt, dass diese irrational sind, quasi aus dem nichts auftauchen und ebenso mysteriös auch wieder verschwinden. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass dies nicht zutrifft. Gefühle werden erzeugt, und zwar von uns. Es sind unsere Gedanken, also wie wir eine Situation interpretieren, die Gefühle entstehen lassen. Und zwar jedes Gefühl durch eine andere Interpretation: Wut durch die Interpretation, dass etwas “falsch” ist, Trauer, dass es “schade” ist, Angst, dass es “furchtbar” ist und Freude, dass es “richtig” oder “schön” ist. Scham hingegen, wird ausgelöst durch den Gedanken, dass ich selbst vielleicht falsch bin. Diese Grundinterpretationen sind wie Knöpfe in unserem Kopf, die wir bedienen und dadurch Gefühle erzeugen. Da uns dieser Prozess jedoch in der Regel nicht bewusst ist, kommt es uns tatsächlich so vor, als würden unsere Gefühle aus dem nichts entstehen.
Vorsicht Schattengefühle
Besonders problematisch ist diese Tatsache, wenn unsere Gefühle sich nicht als positive Kräfte zeigen, die eben genau das sind, was wir in der jeweiligen Situation brauchen, sondern in ihrem Schattenausdruck. Um es konkret zu machen: statt für Klarheit zu sorgen, wird Wut in ihrem Schattenausdruck zerstörerisch — ein Phänomen, das wir alle irgendwo schon mal erlebt werden. Trauer hingegen führt in ihrem Schattenausdruck nicht zu positiver Annahme der Situation, sondern zu depressiver Passivität. Angst ist ganz und gar nicht schöpferisch, wenn sie sich in ihrem Schatten zeigt. Im Gegenteil: Sie lähmt uns wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange. Scham in ihrem Schattenausdruck unterstützt uns nicht in einer gesunden Selbstreflexion, sie verleitet uns vielmehr dazu, kein gutes Haar mehr an uns zu lassen. Wir zerfleischen uns buchstäblich mit Selbstvorwürfen. Überraschend dürfte für die meisten Menschen sein, dass auch unser Lieblingsgefühl Freude nicht nur positiv ist. Auch sie hat einen Schattenausdruck: die Illusion. In dieser Form lässt sie uns tatsächlich den Boden unter den Füßen verlieren. Wir reden uns Dinge schön, die eigentlich dringend der Aufmerksamkeit einer anderen Gefühlskraft bedürften.
Gute oder schlechte Gefühle?
Jedes Kind weiß, dass es Gefühle gibt, die sich gut anfühlen und solche, die wir nicht so gerne mögen. Leider wird die Trennlinie oft nach den falschen Kriterien gezogen: Wut, Trauer, Angst und Scham auf der einen Seite, Freude auf der anderen. Doch wenn wir verstanden haben, dass gerade die so genannten schlechten Gefühle unser Rüstzeug sind, um mit schwierigen Situationen umzugehen, wird es Zeit für eine Neudefinition. Nicht jene Gefühle, die auftreten, wenn etwas anders läuft, als wir es gerne hätten, sind schlecht. Es sind die Gefühle, die sich gegen das, was ist, richten und daher nicht konstruktiv sind, die wir wirklich nicht gebrauchen können.
@Vivian Dittmar
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