Die meisten Menschen sind ja skeptisch, wenn sie lesen, dass Therapeuten und Coaches meist in der Vergangenheit suchen, wenn es eigentlich um aktuelle Probleme geht.
Oft kommt dann eine Begründung nach dem Motto: „Wie soll denn etwas, was zwanzig oder dreißig Jahre her ist, noch heute einen Einfluss auf mich haben? Ich bin doch erwachsen, bin doch ein freier Mensch. Kann mich so oder so entscheiden.“
Tja, nette Theorie. Doch Lebensthemen beeinflussen unser Leben mehr, als uns bewusst ist.
„Das erste, was ich von Herrn M. hörte, war eine Entschuldigung. Er kam in meine Praxis zu einem Coaching-Vorgespräch: „Entschuldigen Sie bitte, ich weiß, ich bin fünf Minuten zu früh.“
Ich fand das seltsam, kommentierte es aber nicht, weil ich neugierig war, welche Geschichte sich wohl dahinter verbergen würde. Herr M. kam wegen der Folgen eines Burnouts. Er hatte jahrelang Überstunden abgeleistet, konnte schlecht Nein sagen und wurde deshalb weidlich ausgenutzt.
Privat half er immer wieder bei der Renovierung des Hauses der Schwiegereltern und war auch noch als Fußballtrainer für eine Jugendmannschaft aktiv. Das war ihm zwar zu viel, aber er wollte die Jungen nicht enttäuschen.
Der Zusammenbruch war schmerzhaft für ihn und beschämend – aber auch erleichternd. Denn sein Hausarzt „befahl“ ihm, sich endlich um sich selbst zu kümmern und mich aufzusuchen.
Im Gespräch fragte ich ihn nach einer Weile, warum er so Angst habe, andere zu enttäuschen. Denn das schien mir der gemeinsame Nenner seines ganzen anstrengenden Verhaltens zu sein. Zuerst kamen etwas lauwarme Erklärungen, dass er eben gern anderen helfe und Solidarität ein hoher Wert für ihn sei.
„Wen haben Sie denn schon mal sehr enttäuscht?, fragte ich ihn dann.
Er wurde sofort bleich, dann rot, und stammelte dann: „Meine Mutter. Meine Mutter habe ich sehr enttäuscht.“ Dann erzählte er, dass er mit sieben Jahren mal eine Fünf in Rechnen nach Hause brachte. Seine Mutter wurde sehr zornig, fing an zu weinen und stieß dann hervor: „Weil Du geboren wurdest, konnte ich nicht weiter studieren. Wenn Du nicht gekommen wärst, wäre ich heute Ärztin!“
Herr M. wusste bis dato nicht, dass dieser eine Satz sein ganzes Leben beeinflusst hatte. Denn daraus wurde für ihn der unbewusste Glaubenssatz: „Ich bin eine Belastung für andere – und muss mir meine Existenzberechtigung erst verdienen.“
Und das versuchte er, indem er nichts für sich forderte, sondern immer nur schaute, wie er anderen helfen konnte bzw. nie mehr jemanden enttäuschte.
Diese Strategie war zu seinem Lebensthema geworden.
Wie klärt man Lebensthemen?
Die Transaktionsanalyse hat den Begriff des „Skripts“ geprägt. Das ist ein Drehbuch, ein Lebensplan oder ein unbewusstes Programm, nach dem ein Mensch lebt. Die in den frühen Jahren gemachten Beziehungserfahrungen in Form von Erlebnissen und Aussagen bestimmen dabei maßgeblich das Selbstwertgefühl des Kindes und seine Strategien.
Als Kind ist man völlig abhängig von den Eltern. Sie bestimmen in großem Maß die Möglichkeiten der Person, sich zu entfalten und Konflikte zu bewältigen. Und zwar durch direkte und indirekte Botschaften, durch Verbote und vor allem durch die mit ihnen gemachten Erfahrungen.
Als Siebenjähriger konnte Herr M. zu seiner Mutter nicht sagen: „Du spinnst doch wohl. Was kann ich dafür, dass Du schwanger geworden bist?“ Als Kind übernimmt man solche Botschaften und versucht, damit irgendwie fertig zu werden.
Und diese Strategien prägen sich ein, einfach weil sie sich gut bewährt haben.
Herr M. erlebte, wenn er keinen Ärger machte, pflegeleicht wurde, sich hilfsbereit und höflich zeigte, dass seine Mutter und andere Menschen darauf positiv reagierten. Zugleich lernte er früh, Anzeichen von Ärger, Eigensinn oder eigene Bedürfnisse zu unterdrücken.
Als Erwachsener sind uns diese frühen Überlebensstrategien in Fleisch und Blut übergegangen. Wir müssen nicht mehr daran denken oder uns erinnern. Unser Autopilot steuert unbewusst unser Verhalten in den alten Bahnen, wenn eine für uns kritische Situation auftaucht.
So wie Herr M. beim Betreten meiner Praxis nicht sicher war, ob ich vielleicht schimpfen könnte, weil er zu früh gekommen war – und automatisch kam seine Entschuldigung über seine Lippen.
Jeder von uns hat solche empfindlichen Punkte und entsprechende Verhaltensstrategien aus Kindheit und Jugend. Zu den prägendsten Ereignissen gehören zum Beispiel:
- Frühe Trennungen
durch längere Klinikaufenthalte, Fremdbetreuung, Kinderheim-Aufenthalte, Trennung der Eltern. Daraus resultieren oft starke Verlassenheitsängste, die in erwachsenen Beziehungen wieder ausgelöst werden können. - Krankheiten eines Elternteils
Egal ob Drogensucht, Alkoholismus, Depression, Krebs. Das Kind lernt früh, Gedanken und Gesichter zu lesen, um auf entsprechende Ausbrüche oder Verschlechterungen frühzeitig vorbereitet zu sein. - Missbrauch und Prügel
Sexueller oder emotionaler Missbrauch hat immer schlimme Folgen, vor allem weil solche Traumata auch das Gehirn verändern. Bekommt ein Kind Schläge von einem Elternteil, lernt es Lektionen über Macht in Beziehungen und wie man am besten damit umgeht. Unterordnen und Angst aushalten oder dafür sorgen, dass andere einen fürchten. - Abwertungen, Beschämungen, ständige Kritik
Ein geringes Selbstbewusstsein oder das ständige Gefühl, noch etwas beweisen zu müssen, ist hier oft die Folge. - Schwere Krankheit oder Behinderung eines Geschwister.
Das gesunde Kind steht fast immer im Schatten, einfach weil die ganze Aufmerksamkeit der Eltern verständlicherweise dem Sorgenkind gilt. Oft entwickelt es auch Schuldgefühle, dass es gesund ist und sorgt im erwachsenen Leben unbewusst dafür, dass es ihm nicht zu gut geht, als müsste es etwas ausgleichen oder wiedergutmachen. - Tod eines Elternteils oder Verwandten
Stirbt jemand und redet man nicht immer wieder mit dem Kind und erklärt ihm, dass das nichts mit ihm zu tun hat, suchen Kinder immer nach einem Grund. Und mit ihrem magischen Denken finden Sie den Grund letztlich bei sich.
Aber natürlich gibt es unzählige Ereignisse, die einen in Kindheit und Jugend beeinflussen – und auch nicht nur negativ. Dazu zählen der Platz in der Geschwisterreihe, Erfahrungen in der Schule, das emotionale Klima in der Familie, die Beziehung und Kommunikation der Eltern untereinander usw.
Wir tendieren dazu, unbewusste Kindheitserfahrungen im Erwachsenenleben zu reinszenieren. In anderen Kontexten, mit anderen Menschen. Manchmal fällt einem hinterher auf, dass man unangemessen, eben nicht erwachsen, auf etwas reagiert hat. Frühere prägende Situationen und unsere Reaktionen darauf, sind zu unserem Lebensthema geworden.
Macht man sich die Mühe, sein eigenes Interpretieren der äußeren Situation zu reflektieren, kommt man oft darauf, dass man sich ähnlich fühlte wie in einer früheren Situation. Fast wie in einem Déjà vue.
Das allein zu erkennen ist schon hilfreich. Denn es macht uns klar, dass die äußere Situation, die Bemerkung des anderen, das Verhalten des Partners nur Auslöser für unsere Reaktion war, nicht Ursache.
Die häufigsten Lebensthemen.
Die wichtigsten Lebensthemen werden in den ersten zehn bis zwölf Lebensjahren geprägt. Denn hier sind wir von vielen Menschen abhängig (Eltern, Geschwister, Lehrern, Mitschülern etc.) und wir haben täglich damit zu tun. Auch ist in dieser Zeitspanne das Denkvermögen noch nicht sehr entwickelt. Wir glaubten oft, was man uns sagte.
Die meisten Menschen haben mehrere Lebensthemen, die sich manchmal auch auf ungute Weise ergänzen. Die wichtigsten habe ich hier zusammengefasst:
- Nicht existieren.
Der Mensch glaubt, keine Daseinsberechtigung zu haben und lebt oft dementsprechend. Oder er versucht, sich diese Existenzberechtigung zu verdienen,indem er gebraucht wird. Demzufolge opfert er seine ganze Zeit und Energie, um anderen zu helfen und zu dienen. Das können die Familie, die Eltern, die Firma sein – oft alle drei Bereiche. - Nicht wichtig sein.
Der Mensch strengt sich enorm an, vermisst aber die angemessene Anerkennung. Kommt diese doch einmal, kann er sie nicht annehmen, weil er denkt, dass er sie doch nicht verdient hat. Oder er weist die Anerkennung zurück, weil er glaubt, der andere mache das nur aus Mitleid. - Nicht dazu gehören.
Der Mensch fühlt sich häufig fehl am Platz, zieht sich allgemein schnell zurück. Glaubt, dass er irgendwie anders sei als andere und deswegen eher störe oder eine Belastung ist. - Nicht erfolgreich sein.
Beruflich wie privat erlebt der Mensch immer wieder, dass er/sie nicht zum Ziel kommt oder alles gut anfängt und dann einbricht – auch weil er oft zum Scheitern unbewusst beiträgt. Es scheint ihm verwehrt, glücklich oder zufrieden zu werden. Wenn es ihm jedoch gut geht, plagen ihn quälende Schuldgefühle, dass es anderen nicht so gut geht, und er sorgt dafür, dass er doch wieder leidet. - Nicht normal sein.
Der Mensch glaubt, dass er etwas Besonderes ist und erwartet entsprechenden Respekt und pausenlose Anerkennung. Auf Kritik reagiert er massiv gekränkt und schwört Rache. Selbstkritik ist ihm fremd, denn schuld sind immer die anderen oder die Umstände. Trotz seines gewinnenden Wesens kommt man ihm nicht wirklich nahe. - Nicht gut für sich sorgen.
Der Mensch will es oft anderen recht machen und vernachlässigt dabei seine eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Grenzen. In Gruppen oder Beziehungen ordnet er sich schnell unter oder übernimmt unbequeme Aufgaben für andere. Sich angemessen abzugrenzen oder eigene Gefühle und Wünsche zu äußern fällt ihm schwer. - Nicht zufrieden sein.
Der Mensch kann und macht vieles gut, kann sich aber darüber nicht freuen. Er kritisiert sich selbst, dass er/sie es noch etwas besser hätte machen können. Was er eigentlich beweisen muss und wann es bewiesen wäre, weiß er nicht. Die Fähigkeit zum Fühlen wurde früh verlernt oder verboten. Nur das reibungslos Funktionieren– beruflich wie privat – zählt und wird bis zur Perfektion vervollkommnet. - Nicht erwachsen sein.
Auf den ersten Blick ist der Mensch nett, hilfsbereit und kompetent. Zwei Varianten zeigen das Nicht-Erwachsen-Sein. Übertriebene Anpassung an andere gepaart mit schlechtem Durchsetzungsvermögen und der Scheu vor Verantwortung. Das kann sich durch unpassende Rebellion gegen „Autoritäten“ und vermeintliche Einschränkungen der persönlichen Freiheit zeigen. In nahen Beziehungen fällt es ihm schwer, erwachsen zu sein und sich auf Augenhöhe zu fühlen. Stattdessen idealisiert er den Partner oder versucht, ihn zu dominieren. Auffällig ist das starke äußere oder innere Gebundensein an die Eltern. - Nicht aggressiv sein.
Der Mensch hat früh gelernt, keinen Ärger zu zeigen, weil das mit Sanktionen belegt war. Sich abzugrenzen oder etwas für sich einzufordern, löst Schuldgefühle und starke Ängste aus. Der aufgestaute Ärger entlädt sich zuweilen trotzdem, was den Menschen noch mehr erschreckt, zu welchen „Gewaltausbrüchen“ er fähig ist. Ein noch stärkeres Kontrollieren der eigenen Aggression ist die Folge. - Nicht besser sein.
Einen Vortrag zu halten oder sich in einem Meeting zu Wort zu melden, löst starke Ängste aus. Der Mensch weiß, dass er/sie auch Kluges zu sagen hätte, aber die Hürde erscheinen unüberwindbar. Sich zu zeigen oder auf seine Leistungen aufmerksam zu machen, ist ihm peinlich. Er hofft darauf, dass man ihn „entdeckt“ und ist neidisch auf andere, die bei schlechterer Performance einen guten Eindruck machen. - Nicht schwach sein.
Der Mensch ist über lange Jahre sehr einsatzbereit, leistet viel und funktioniert perfekt. Dann kommt ein Einbruch, ausgelöst durch eine berufliche, private oder gesundheitliche Krise. Er beginnt an allem zu zweifeln und findet an nichts mehr Gefallen. Fragen wie „Wofür mache ich das alles?“ und „Warum lebe ich?“ tauchen auf und der Mensch hat darauf erst einmal keine Antwort. - Nicht fühlen.
Der Mensch versucht, sein Leben mit Verstand und Logikzu meistern. Er hat die Angst, von den eigenen Gefühlen überflutet zu werden, die Kontrolle zu verlieren oder verrückt zu werden.
Wie man Lebensthemen identifizieren und klären kann.
Da die Erfahrungen, die zu einem Lebensthema geführt haben, in der Regel vergessen oder verdrängt wurden, ist das nicht so leicht. Der Mensch hat ja eine Strategie gefunden, die den Schmerz mindert. Das Lebensthema wurde zur Lebensdevise:
- „Ich bin eben ein rationaler Mensch.“
- „Ich muss mich nicht im Mittelpunkt stehen.“
- „Das Bessere ist der Feind des Guten.“
- „Ich mag es, wenn die Dinge perfekt sind.“
- „Ich war schon immer ein Pechvogel.“
- usw.
Entscheidend beim Aufspüren eines Lebensthemas ist, ob man tief genug an jene abgespaltenen Erinnerungen herankommt, die zur Entstehung des Lebensthemas geführt haben. Das geht meist nicht über Nachdenken und Einsicht, sondern eher durch eine starke emotionale Beteiligung.
- Ein Schicksalsschlag zwingt einen, seine Prioritäten neu zu ordnen.
- In einem Film oder einem Buch erkennt man sich wieder und erschrickt.
- Der Partner oder ein Freund benennt das Lebensthema ganz direkt.
- Durch professionelle Unterstützung in einem Coaching oder Persönlichkeitsseminar.
@Roland Kopp-Wichmann
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