Ich weiß noch, als mir das erste Mal jemand folgenden Satz gesagt hat:
“Ja, wenn du meine Worte benutzen möchtest, um dir wehzutun, dann darfst du das gerne tun. War aber nicht meine Absicht.”
Meine Reaktion darauf kannst du dir vielleicht vorstellen.
“Ich “benutze” deine Worte, um mir wehzutun? Wer hat mir denn gerade so dumme Sachen in einem völlig unpassenden Moment an den Kopf geworfen? Das warst ja wohl du! Sag mal, spinnst du?!”
In demselben Kreis von Leuten kamen auch Sätze, wie “Selbstwertgefühl ist eine Entscheidung” oder “Du bestimmst selbst, wie du dich fühlen möchtest”.
Und ich erinnere mich noch daran, wie ich das Gefühl hatte, völlig im falschen Film zu sein… und dass ich da gerade nur von A*löchern umgeben bin.
Denn sie haben über etwas geredet, was ich damals noch nicht verstanden hatte… ja, was ich mir nicht mal vorstellen konnte, wie man überhaupt so denken könnte.
Ich fand es unsensibel, respektlos verletzend…
Aber weißt du, was der eigentliche Unterschied war?
Sie haben NICHT aus einer Opferhaltung heraus kommuniziert.
Die Opferhaltung hat nichts mit “ein Opfer sein” zu tun.
Die Opferhaltung ist eine geistige Grundhaltung, die uns irgendwann einmal antrainiert wurde.
Die feste, innere Einstellung, die besagt “Ich selbst bin unfähig und ich brauche andere, um glücklich und schmerzfrei sein zu können”.
Das Ergebnis aus wiederkehrender, ungerechtfertigter Kritik in der Kindheit (zum Beispiel wenn wir nie “gut genug” waren, sondern immer noch etwas besser hätten machen können). Oftmals in Verbindung mit einem “komm, ich helfe dir. Du kriegst es ja nicht hin”.
Dadurch entwickeln sich 2 Einstellungen:
1. Ich mache sowieso nie etwas gut genug.
2. Ich brauche die Hilfe von anderen Menschen, um klarzukommen.
Die Opferhaltung ist geboren und zieht sich oft durch das gesamte Leben hindurch – solange sie nicht als solche entlarvt wird.
Wie ein Papagei, den du permanent auf der Schulter mit dir trägst und der dir immer wieder sagt “Nein, das kannst du nicht”, “Das wird sowieso nichts” oder “Andere Menschen müssen dich glücklich machen. Wenn sie dir wehtun, sind sie schlechte Menschen und erfüllen ihre Aufgabe für dein Leben nicht richtig”.
Interessant ist, dass das ja immer eine Weile so gut geht.
Es finden sich immer Leute mit demselben geringen Selbstwertgefühl, die sich dafür hergeben.
Die auch nie gelernt haben, für ihre Zufriedenheit selbst zu sorgen, sondern sich ebenjene nur dadurch holen, dass sie..
… zuerst andere Menschen glücklichen machen…
… damit diese Menschen sie danach im Gegenzug auch glücklich machen.
Und aus der Opferhaltung heraus sieht jeder, der meine Opferhaltung (also meine unzureichende Fähigkeit für mich selbst zu sorgen verbunden mit der Anspruchshaltung, dass andere eigentlich für mich sorgen sollten) NICHT bekräftigt, sondern sogar von mir erwartet, dass ich mein Glück NICHT von ihm abhängig mache, erstmal wie ein A*loch aus.
Denn er teilt unser Weltbild nicht. Unsere Identität.
Und damit stellt er, unterbewusst, eine Gefahr für unsere Existenz dar.
Wenn wir nämlich nicht mehr sind, wer wir glauben zu sein… wer sind wir dann?!
Ich sage dir, was du nicht bist. Und meine ganze Arbeit baut darauf auf:
Du bist kein Opfer.
Du fühlst dich vielleicht manchmal so, aber du bist es nicht.
Du bist ein großartiger Mensch und ein mächtiges Wesen.
Du besitzt die Fähigkeit, dein Leben mit Kraft deiner Gedanken und Entscheidungen zu gestalten (und ich rede hier nicht von esoterischer Zauberei, sondern von der simplen Kette Gedanken – Gefühle – Verhalten)!
Du hast es nur vergessen.
“Aber das ist die Depression und nicht die Opferrolle. Ich bin krank. Ich kann nichts dafür!”
Das stimmt so (zum Glück) nicht. Die Opferhaltung ist kein Resultat der Depression. Sie war schon vor der Depression da.
“Aber es ist so schwer, ich krieg das nicht hin”.
Ja, es ist schwer, die Opferrolle zu verlassen.
Denn wenn wir anfangen, andere von ihrer Verantwortung für unsere Gedanken, Gefühle und unser Leben zu befreien, müssen wir diese Verantwortung selbst übernehmen.
Bei allem, wofür wir Verantwortung übernehmen, können wir Fehler machen.
Und die meisten haben vor Fehlern große Angst.
Die meisten von uns haben gelernt, dass man keine Fehler machen darf.
Dass man immer perfekt sein und alles stets unter Kontrolle haben muss.
Doch auch das ist nur eine Illusion.
Du darfst Fehler machen. Du MUSST sie sogar machen, um auf dem richtigen Weg zu bleiben.
Wenn du beim Autofahren etwas zu nah an den Fahrbahnstreifen fährst, sagst du ja auch nicht “Oh nein, ich habe einen Fehler gemacht. Ich bin wertlos.”
Denn genau dafür ist der Streifen da! Um dich daran zu erinnern, wo die Fahrspur ist.
Genau dafür sind auch sogenannte “Fehler” da.
Wenn wir irgendeine Art von negativem Feedback auf unser Verhalten bekommen, zum Beispiel durch Worte von anderen oder direkte Konsequenzen (zum Beispiel Glas kaputt, wenn es runtergefallen ist), dann ist das kein Urteil über unsere Unfähigkeit.
Wir können dieses Feedback natürlich als Urteil über unsere Unfähigkeit BENUTZEN (hier schließt sich der Kreis zum Anfang der Email), indem wir den verurteilenden Gedanken folgen, die in uns auftauchen.
Wir dürfen aber auch versuchen, diesen Gedankenfluss zu unterbrechen.
Uns auf das konzentrieren, was wir gerade GELERNT haben.
Was natürlich auch am Anfang nicht immer gleich funktionieren wird.
Aber – wenn wir es nur immer wieder versuchen – mit der Zeit immer besser.
Und plötzlich “benutzen” wir Situationen in unserem Leben nicht mehr, um uns unfähig zu fühlen.
Wir “benutzen” die Worte anderer Menschen dann nicht mehr, um uns angegriffen, verletzt oder wütend fühlen zu lassen (weil wir den Gedanken nicht mehr folgen, die in diese Richtung gehen).
Aber ein Schritt nach dem anderen.
Wenn du nur eine Sache aus dem heutigen Sonntagsimpuls mitnehmen möchtest, weil er dich insgesamt noch etwas überfordert, dann diese:
Beobachte einmal, wann deine Gedanken automatisch in eine “Ich bin klein/ unfähig und brauche das richtige Verhalten von anderen, um mich gut / nicht schlecht zu fühlen” – Richtung abdriften.
Denn die Wahrscheinlich ist 99,9%, dass das nicht wirklich so ist, sondern dahinter nur die Angewohnheit steckt, so zu denken = die verinnerlichte Opferrolle.
Alles Liebe
dein Arne
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