In Krisenzeiten konsumieren viele exzessiv Schreckensnachrichten. Doch mehr Informationen bringen nicht immer mehr Sicherheit. Oft hat Doomscrolling negative Folgen für die Psyche.
»Manchmal gewinnt man den Eindruck, die Welt würde direkt im Smartphone explodieren.« Mit diesen Worten beschreibt David Nuñez, Leiter für Technologie am Museum des MIT, ein Phänomen, das in den vergangenen Wochen immer mehr an Relevanz gewonnen hat. Gemeint ist das »Doomscrolling« – das scheinbar endlose Scrollen durch negative Nachrichten, die einen oft traurig oder wütend zurücklassen. Ob Bilder von explodierenden Häusern in Kiew, Berichte über einen möglichen Atomkrieg oder Beiträge in sozialen Netzwerken, in denen Menschen von ihren schlimmen Erlebnissen in der Ukraine erzählen: Der übermäßige Konsum solcher Inhalte setze Stresshormone wie Adrenalin und Kortisol frei, schreibt Nuñez auf Twitter: »Dein Gehirn schreit ›Flieh oder kämpfe!‹ – wegen eines Haufens Pixel auf deinem Bildschirm.«
Studien dazu, wie sich die Nachrichten aus dem Krieg in der Ukraine auf die Psyche auswirken, gibt es noch nicht. Untersuchungen zu anderen Krisen zeigen jedoch: Schon zwei bis vier Minuten lang negative Nachrichten zu konsumieren, kann einen messbaren Effekt haben. 2021 ließ ein Team um Kathryn Buchanan von der University of Essex in Großbritannien hunderte Versuchspersonen für wenige Minuten durch einen Twitterfeed mit Informationen zu Covid-19 scrollen oder aber ein kurzes Youtube-Video zur Pandemie anschauen, in dem beispielsweise Ärztinnen und Ärzte für mehr Schutzausrüstung demonstrierten. Beide Gruppen berichteten daraufhin von weniger positiven Gefühlen als die Teilnehmer einer Kontrollgruppe, die sich keine Corona-Nachrichten angesehen hatten. Außerdem gab die Mehrheit der Videozuschauer anschießend an, eine weniger optimistische Sicht auf die Welt zu haben.
Pam Ramsden von der University of Bradford und ihre Kollegen fanden 2015 sogar einen Zusammenhang zwischen dem Konsum von Katastrophennachrichten und Symptomen, die denen einer Posttraumatischen Belastungsstörung ähneln. Die Forscherinnen und Forscher befragten 189 Versuchspersonen dazu, wie häufig diese sich im Internet oder in sozialen Netzwerken Inhalte zu schlimmen Ereignissen wie Amokläufen oder Terroranschlägen ansahen. Zudem absolvierten die Teilnehmer einen Persönlichkeitstest und füllten verschiedene klinische Trauma-Fragebogen aus. Dabei entdeckten Ramsden und ihr Team, dass sich mehr als ein Fünftel der Probanden durch die Bilder und Berichte belastet fühlte. Auf einer Skala, die Psychologen für die Diagnose von Posttraumatischen Belastungsstörungen nutzen, erzielten die betreffenden Personen teils hohe Punktzahlen, obwohl niemand von ihnen in der Vergangenheit selbst ein traumatisches Ereignis erlebt hatte. Je häufiger sich die Probanden eigenen Abgaben zufolge Katastrophennachrichten ansahen, desto stärker war der Effekt.
Besonders nachhaltig auf das Gemüt zu drücken scheinen negative Informationen, die über soziale Medien verbreitet werden. Darauf fanden der Psychologische Psychotherapeut Moritz Petzold von der Berliner Charité und seine Kollegen Hinweise. Die Forscherinnen und Forscher analysierten im Frühjahr 2020 die Mediennutzung von mehr als 6000 Menschen während der Anfangsphase der Pandemie. Dabei entdeckten sie, dass vor allem Personen, die sich per Facebook, Instagram, Twitter und Co. informierten, vermehrt über Anzeichen von Angst und Depressionen berichteten. Das könnte damit zusammenhängen, dass Informationen auf sozialen Netzwerken meist recht ungefiltert auf die Nutzer einprasseln – und dort zudem meist besonders emotional kommuniziert wird, vermuten die Autoren.
Viele glauben, durch den exzessiven Nachrichtenkonsum besser geschützt zu sein
Doch wenn schlechte Nachrichten vor allem für schlechte Laune sorgen, warum sind wir dann manchmal geradezu süchtig nach ihnen? Laut Untersuchungen steigern viele Menschen ihren Medienkonsum im Angesicht von Krisen und Katastrophen erst recht. Paradoxerweise sind es oft vor allem diejenigen, die besonders unter den Bildern und Berichten leiden, die ihren Blick kaum von den Nachrichtenseiten oder Social-Media-Feeds abwenden können.
Laut Moritz Petzold hat zu dieser Entwicklung auch das Internet entscheidend beigetragen, das den Nutzern oft eine Information nach der nächsten anbietet. Früher dagegen hätte man einfach die Zeitung weggelegt. Zudem glauben viele, sich durch mehr Informationen auch besser schützen zu können, erklärt die Lernforscherin Michaela Brohm-Badry von der Universität Trier. Denn um eine Situation zu beherrschen, müssen wir sie unter anderem verstehen. Und während manche Konservendosen gegen die Lebensmittelknappheit hamstern oder versuchen, sich mit Jodtabletten für einen drohenden Atomkrieg zu wappnen, scrollen andere eben unermüdlich durchs Internet, um sich ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle zu verschaffen. »Für uns ist es das Wichtigste, zu überleben«, sagt Brohm-Badry. »Wenn etwas eventuell Bedrohliches kommt, müssen wir hinblicken: Können wir etwas sehen oder hören, das Schrecken erzeugt?«
Bei manchen Krisen mag dieses Kalkül aufgehen. Im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine helfen Informationen allerdings nur begrenzt weiter. »Gegen Corona konnten wir etwas tun: Hände waschen, Abstand halten, Maske tragen. Doch derzeit können wir auch durch ein erhöhtes Maß an Nachrichten unsere Situation nicht verbessern«, so Brohm-Badry.
Öfter mal Nachrichtenpausen einzulegen hilft, die Psyche zu schützen
Was ist also die Alternative? Sich von sozialen Netzwerken abkapseln, keine Zeitung mehr lesen, die Push-Nachrichten am Handy ausstellen? Laut Petzold geht es nicht darum, gar keine Nachrichten mehr zu lesen, sondern vor allem darum, einen »besonders hohen und exzessiven Konsum« zu vermeiden. In der Studie, die er gemeinsam mit seinen Kollegen zu Beginn der Corona-Pandemie durchgeführt hat, zeigten vor allem Menschen, die zwei Stunden oder mehr am Tag mit negativen Nachrichten verbrachten, Symptome einer Angststörung oder einer Depression. Das Gleiche galt für Personen, die siebenmal täglich oder häufiger nach Informationen zum Weltgeschehen suchten.
Ebenfalls ratsam: das Handy vor dem Schlafen in die andere Ecke des Raums zu legen und nicht gleich nach dem Aufstehen die Nachrichten checken. Zudem gibt es inzwischen zahlreiche Apps, die dabei helfen können, Doomscrolling zu vermeiden – etwa, indem sie die Zeit begrenzen, in der man sich auf verschiedenen Plattformen aufhalten kann, oder bestimmte Seiten ganz blockieren. Viele Smartphones verfügen inzwischen auch selbst über Funktionen, mit denen sich die Nutzungszeit einzelner Apps oder die Bildschirmzeit insgesamt begrenzen lässt.
Die Journalistin und Filmemacherin Ronja von Wurmb-Seibel plädiert in ihrem Buch »Wie wir die Welt sehen: Was negative Nachrichten mit unserem Denken machen und wie wir uns davon befreien« insgesamt für einen achtsameren Umgang mit Medien. Wurmb-Seibel hat knapp zwei Jahre als Reporterin in Kabul gelebt und dabei lernen müssen, einen guten Umgang mit schlechten Nachrichten zu finden. Sie rät, auch mal einen Tag lang gar keine Nachrichten zu konsumieren oder zu notieren, welche Geschichten, Filme oder Gespräche einen umgekehrt hoffnungsvoll gestimmt haben.
Zuletzt kann es auch helfen, sich gezielt Positivem zum widmen. Auf der Website »Joyscroll« kann man sich zum Beispiel durch eine 22,7 Meter lange Bilder- und Videostrecke scrollen, die die schönen Dinge des Lebens illustrieren soll. Mit Landschaftsbildern aus Island, Tierfotos, Meeresrauschen und Gute-Laune-Musik.
Fünf Tipps gegen Doomscrolling
Schränken Sie Ihren Nachrichtenkonsum ein. Nehmen Sie sich zum Beispiel vor, sich nur morgens und abends über das Weltgeschehen zu informieren.
Üben Sie, optimistisch zu sein. Etwa durch soziale Aktivitäten, indem Sie anderen Menschen helfen oder Dankbarkeitsübungen absolvieren.
Verbringen Sie insgesamt weniger Zeit in den sozialen Netzwerken. Gehen Sie stattdessen raus, tanken Sie Licht, treffen Sie Freunde.
Suchen Sie gezielt nach positiven Informationen. Zum Beispiel, indem Sie einem Account folgen, der sich mit konstruktiven Nachrichten beschäftigt.
@Lisbeth Schröder
Fotonachweis: unsplash.com / Roman Kraft