Die Geschichte meiner Herkunftsfamilie ist sehr bewegt. Beide Eltern haben den Krieg erlebt. Mein Vater als siebzehnjähriger zwangsverpflichtet bei der Kriegsmarine und später in russischer Gefangenschaft, meine Mutter als junges Mädchen, fern von der Familie aufs Land geschickt und bei der Rückkehr vaterlos.
Auch nach dem Krieg sind viele (tragische) Dinge geschehen, die meine Eltern geprägt haben. Und damit den Umgang mit mir als Kind und Heranwachsende als ich 1967 zur Welt kam.
Das war nicht immer einfach. Mein Vater wollte mich in Watte packen, damit mir ja nichts Schlimmes passiert. Meine Mutter hat die Ereignisse ihrer Kindheit zum Teil bearbeitet und zum Teil eher verdrängt und mich darum oft nicht an sich herangelassen.
Irgendwie mittendrin habe ich mir den Weg durch meine Kindheit gesucht und bin „erwachsen“ geworden. Doch was bedeutet das wirklich? Und was hat das mit Coaching zu tun?
Meine Eltern sind schuld
„Meine Mutter hat mich nie geliebt, deswegen bin ich heute nicht bindungsfähig.“ „Mein Vater wollte lieber einen Sohn, darum konnte ich als Mädchen keinen Selbstwert entwickeln.“ „Meine Eltern waren nie für mich da, die waren immer in der Firma, darum arbeite ich heute selbst so viel und kann nie abschalten.“
Im Coaching und auch in der Coaching-Ausbildung habe ich sehr häufig erlebt, dass meine Kunden sich um Fragen aus ihrer Kindheit drehen. Diese Liste könnte ich endlos fortsetzen. Wobei eine glückliche Kindheit kein Garant für ein gelingendes Leben ist. Und eine unglücklich verbrachte Zeit nicht automatisch zu einem erfolglosen Leben führt.
Aber wie sind wir so geworden, wie wir sind? Wie bist Du so geworden? Dabei hilft als Erklärung das Zwiebelmodell. Das ist ein tiefenpsychologisches Modell, das ich vor inzwischen zwanzig Jahren entwickelt habe, um mit einfachen Worten einen ziemlich komplexen Sachverhalt zu erklären.
Zwiebelmodell heißt es, weil unsere Erfahrungen sich im Laufe unseres Lebens wie Zwiebelschichten um unseren wahren Kern legen. Aber auch, weil beim Zwiebelschälen – und bei der persönlichen Entwicklung – manchmal Tränen fließen.
Wie Du geworden bist, was Du heute bist
Ich gehe davon aus, dass Du – genau wie ich und alle anderen Menschen – hier auf dieser Welt bist, um Deine Berufung zu finden, Deine Träume zu leben und den Weg Deiner Seele zu gehen. Du kommst dafür mit ganz besonderen Anlagen und Talenten zur Welt, um idealerweise das Beste daraus zu machen.
Es kommt nur eine winzige Kleinigkeit dazwischen (denn sonst würden wir das ja alle ganz einfach tun und nicht so ein Theater darum machen): Gene, Erziehung und Erfahrung.
Stell Dir einen Menschen für einen Moment als eine Zwiebel vor. Das Innerste der Zwiebel, das ist Deine Seele, Dein Wesenskern, mit all Deinen wundervollen Anlagen. Hier ist Dein gesamtes Potenzial zu Hause, das Du idealerweise in diesem Leben verwirklichen und ausdrücken wirst.
Die Forschung weiß heute, dass Du bereits als Embryo im Mutterleib alles gespürt hast, was um Dich herum geschah. Du bist geprägt davon, ob Deine Mutter entspannt war und eine gute Zeit hatte. Oder ob sie gestresst und ängstlich war. Wie Deine Geburt verlief, spielt auch eine Rolle, ebenso wie Deine ersten Lebensjahre und wie Deine Eltern und andere wichtige Bezugspersonen mit Dir umgegangen sind.
Die ersten Jahre
Besonders wichtig ist das, was Dir in den ersten fünf Lebensjahren an Gutem und weniger Gutem oder gar Dramatischem begegnet ist und wie Du es aufgrund Deiner ersten Prägungen erlebt hast. Alle grundlegenden Dinge passieren hier ein erstes Mal.
Es wird zum ersten Mal Liebe erfahren oder auch Ablehnung. Die ersten Erfahrungen mit Mutter- und Vaterfiguren werden gemacht. Ebenso die ersten guten oder weniger guten Erfahrungen mit anderen Kindern, alten Menschen, Tieren, der Natur, Erfolg und Misserfolg, Freude, Schmerz und dem Umgang damit.
Die ersten Erfahrungen mit dem gesamten Leben eben. Ich nenne diese ersten Erfahrungen »primäres Szenario«.
Mit jeder Erfahrung und jedem Lebensjahr legt sich um Deinen Wesenskern eine weitere Schicht. Machst Du gute Erfahrungen, bilden sich dünne Schichten mit guten, stärkenden Überzeugungen – dass die Welt ein schöner Ort ist, voller Liebe und Licht zum Beispiel.
Machst Du weniger gute Erfahrungen, entstehen dickere Schichten zum Schutz, verbunden mit der inneren Überzeugung, dass es besser ist, niemandem zu vertrauen, oder dass diese Welt kein besonders schöner Ort und Dein Glas immer halb leer ist.
Du wirst während Deiner Entwicklung also ein Mensch mit dünnen, durchlässigen Schichten, durch die Du Deinen Wesenskern noch gut spüren und Deine innere Stimme gut hören kannst, oder Du sammelst dicke Schutzschichten an, durch die Du Dich immer weiter von Deinem wahren Kern entfernt fühlst.
Das primäre Szenario
Das primäre Szenario ist die Ur-Erfahrung von jeder möglichen Situation in Deinem Leben. Sie bestimmt den weiteren Umgang mit ähnlichen Themen. Jedes primäre Szenario wird sich in Deinem Leben wiederholen, weil Du unbewusst überzeugt davon bist, dass die Welt so ist, wie Du sie wahrnimmst. Dabei ist sie immer nur so, wie Du sie durch die Brille Deiner primären Szenarien siehst. Jeder Mensch hat darum einen ganz und gar individuellen Blick auf die Welt (die es genau betrachtet dann eigentlich gar nicht gibt, sondern unendlich viele verschiedene – aber das führt jetzt zu weit).
Aufgrund Deiner Erfahrungen erwartest Du zum Beispiel, ernst genommen zu werden und fühlst Dich stark und kompetent. Oder Du glaubst, dass Du es sowieso nicht kannst und dass das früher oder später auch jemand merken wird.
Das steht dann unsichtbar auf Deiner Stirn geschrieben, das heißt, Du drückst es durch Deine Haltung und Dein Verhalten unbewusst aus. Mit der Konsequenz, dass irgendwann jemand Deine Knöpfe drückt. Deine Erwartungen und das Gesetz der Resonanz führen dann zur »Reinszenierung« Deiner primären Erfahrung.
Vielleicht hast Du es auch schon erlebt, dass sich bestimmte Themen in Deinem Leben wiederholen? Eben ist noch alles okay, doch dann bekommst Du einen neuen Chef vor die Nase gesetzt, der dich ständig mit Vorwürfen bombardiert. Du wechselst die Firma und es dauert nicht lange, bis auch dort Dein Chef mit Deiner Leistung nicht mehr zufrieden ist.
Das primäre Szenario dahinter ist vermutlich die Ablehnung, die Du durch Deinen Vater erlebt hast und die Du mit Deinem Chef wiederholst, also »reinszenierst«.
Doch was soll das Ganze? Das Leben liefert Dir die Ursprungserfahrungen aus der Kindheit erneut in einem neuen Gewand, damit Du Frieden mit der Vergangenheit schließt (und erkennst, dass Dein Chef nicht Dein Papa ist) und von Negativdenken und Angst auf Lebensfreude und Liebe umschalten kannst.
Deine Kindheit ist vorbei!
Viele Menschen – darunter auch ich und vielleicht auch Du – hatten es in der Kindheit nicht leicht. Hatten keine idealen Rahmenbedingungen, die Eltern haben einen lieblos oder sogar brutal behandelt oder das Schicksal hat zugeschlagen, als man noch klein war.
Doch das alles ist Vergangenheit.
Es hat Dich zu dem Menschen gemacht, der Du heute bist. Das ist wundervoll, denn Du bist wundervoll! Du musst nur aufhören, Deinen Eltern oder Deiner miesen Kindheit die Schuld zu geben.
Das, was aus Dir geworden ist, hat viel mit den Prägungen aus Deiner Kindheit zu tun, doch das, was Du heute sein kannst, hängt einzig und allein von Dir selbst ab. Du entscheidest, ob Du weiter der Vergangenheit nachhängen und Deinen Eltern die Schuld für Dein Schicksal geben oder ob Du Dich ganz und gar für Deine Selbstverantwortung im Hier und Jetzt entscheiden willst.
Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben.
Das heißt nicht, dass Du vergisst, was Du erlebt hast oder was Dir angetan wurde. Aber einzig Deine Bewertung der Vergangenheit jetzt, hier in der Gegenwart, entscheidet darüber, was Du heute bist.
Statt zu jammern, dass Du nicht genug geliebt wurdest, weil Du eigentlich ein Junge werden solltest, könntest Du den Blick darauf richten, wie stark es Dich gemacht hat. Und statt Deinen Eltern vorzuwerfen, wie sie Dich behandelt haben, könntest Du Dir klarmachen, dass sie ihr Bestes gegeben haben. Das Beste, was sie zu dieser Zeit eben geben konnten.
Deine (verpfuschte, schlimme, traumatische, schreckliche, unmögliche, … hier bitte einsetzen, was Du darüber denkst) Kindheit hat Dich zu dem gemacht, der Du heute bist. Du hast einen Job, vielleicht einen Partner, Freunde, vermutlich eine Wohnung, ein Auto oder ein Fahrrad und noch allerlei andere Dinge (die Du eigentlich nicht brauchst, die Du Dir aber verdient hast).
Du hast trotz dieser Kindheit etwas Großartiges aus Dir gemacht! Sei stolz auf das, was Du bist! Und hör auf, anderen die Schuld zu geben für das, was Dir heute an Dir oder Deinem Leben womöglich nicht gefällt. Denn das kannst Du ändern.
@ Angelika Gulder
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